Dienstag, 20. Januar 2015

VON DER NATUR ZUR ABBILDUNG, VON DER ABBILDUNG ZUM BILDWERK UND VOM BILDWERK IN ABBILDUNG.

Ein Exkurs zur Photographie als eines der Arbeitswerkzeuge und Mittel der Dokumentation in der Bildhauerei um 1900.

Teil 1 von 3

Von der Natur zur Abbildung
Bereits um 1840 sorgten diverse technische Erfindungen und Weiterentwicklungen für enorme Neuerungen im Bereich der Photographie. Verbesserte Verfahrenstechniken begünstigten die Verwendung von Photoapparaten und phototechnischem Zubehör sowie besseren Photochemikalien und Photopapieren. Dies führte in der Folgezeit zu differenzierten Entwicklungen in der Wahl der Themengebiete der Photographen und zu einer zunehmend spezialisierten Anwendung der Photographie als künstlerisches Ausdrucksmittel. Parallel zu den rasanten Weiterentwicklungen in der Photographie als Wirtschaftszweig sollten sich erhebliche Änderungen für die deutsche Kunstproduktion zum Ende des 19. Jahrhunderts einstellen.

Abb. 1 – Photograph nicht bekannt.: Marmorskulptur der 1874 aufgefundenen Aphrodite oder auch Venus von Esquilin (um 50 n. Chr.), Musei Capitolini, Centrale Montemartini, Rom.[1]

Zunächst fanden diese Umstände auf das unmittelbare und mittelbare Schaffen der Kunstmaler ihre drastischen Auswirkungen. So wusste Alfred Lichtwark (1852–1914) zur Malerei in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu berichten: „Die Historienmalerei war abgestorben, das sog. Sittenbild – die Genremalerei – lag in den letzten Zügen. In vielen deutschen Städten zwischen hundert- und achthunderttausend Einwohnern gab es bestenfalls ein paar Landschaftsmaler – die Bildnismalerei war an vielen Orten wie ausgelöscht.[2] […] Bis 1840 hatte es in den meisten Städten noch bedeutende und fast überall noch ganz tüchtige, mehr handwerkliche Bildnismaler und Bildniszeichner gegeben. In den fünfziger Jahren zogen sie in Norddeutschland im Sommer noch aufs Land und malten oder zeichneten Bildnisse für die Bauern. Von etwa 1870–80 ab starben sie aus. Um 1890 pflegten selbst die wohlhabendsten Leute es als einen sündhaften Luxus oder gar als eine Anmaßung anzusehen, sich malen zu lassen. Es gab reiche Städte von hundert- bis achthunderttausend Einwohnern, in denen um 1890 kein Bildnismaler mehr seine Nahrung fand. Die Mittel, die dagegen für die Bildnisphotographie aufgewandt wurden, übersteigen alle Schätzung.“[3]

Nicht wenige der um 1840 noch tätigen Bildnis- oder Miniaturmaler wandten sich zuerst nebenberuflich und später im Hauptberuf der Photographie zu. Genau diese vormals als Maler tätigen Künstler entwickelten sich demnach von einer bisher tradierten Kunstform hin zu einer neuen Technik künstlerischen Ausdrucks. Im Zuge dessen kam es schlichtweg zum Ersatz der Bildnismalerei durch die Bildnisphotographie, so Alfred Lichtwark.[4] „In den größeren Städten gab es Hunderte von Bildnisphotographen, im kleinsten Nest, wo kein Maler das Leben hatte, pflegte ein wohlhabender Photograph zu sitzen. Alle Stände waren dem Photographen tributpflichtig, vom Fürsten bis zum Dienstmädchen.“[5] Die in den 1840er Jahren von der Malerei herkommenden Photographen ließen noch all ihre Kenntnisse als Künstler in ihre photographischen Darstellungen einfließen oder produzierten Photographien mit künstlerischem Charakter. In den folgenden Jahrzehnten bestimmten jedoch zunehmend Photographen ohne künstlerische Ausbildung sowie aus unterschiedlichen Berufen herkommende Akteure den Markt der Bildnisphotographie, da nun auch das Publikum weniger Unterscheidungen zwischen künstlerischer Photographie und kommerziell-einfacher Bildnisphotographie vornahm.[6]

Welcher Grad einer kunstwissenschaftlichen Bedeutsamkeit konnte der Bildnisphotographie für die Kunst des ausgehenden 19. Jahrhunderts beigemessen werden? Alfred Lichtwarks Einschätzung fiel folgendermaßen aus: „Seit der Erfindung der Photographie hatte es überall und jederzeit bei uns Liebhaberphotographen und Berufsphotographen gegeben, die die Photographie als Ausdrucksmittel für ihre künstlerische Empfindung und Anschauung verwandten. Aber alle Anstrengungen, die der einzelne machte, nützten nur ihm und ließen keine Spur, wenn er aufhörte.“[7]


Die Bildnisphotographie und ihre Wirkungsbereiche lassen sich demnach in zwei Gruppen unterteilen: Einerseits wären die sogenannten Liebhaberphotographen und andererseits die Berufsphotographen zu nennen. Den Berufsphotographen ging durch den Einsatz von Retusche und der Inszenierung falscher Hintergründe im Atelier fast vollständig der künstlerische Anspruch an ihre Abbildungen verloren.[8] Die Liebhaberphotographen – einige von ihnen entwickelten in Folgezeit den Piktorialismus – wählten stattdessen das reale Zimmer, den echten Garten, die wirkliche Landschaft zum Bildhintergrund ihrer Motive; und so hatten es diese, einem eher subjektiven Kunstsinn folgenden, Photographen wesentlich schwerer, eine gelungene Bildgestaltung im Sinne eines Bildganzen zu erreichen.[9] Alfred Lichtwark bescheinigte den Liebhaberphotographen um 1890, dem Geschmack des Publikums weit voraus zu sein und tendenziell die besten Resultate dabei abzuliefern. Einige Vertreter der Liebhaberphotographie waren dermaßen weit fortgeschritten, dass sie häufig in der Lage dazu waren, Berufsphotographen zum Thema künstlerische Photographie konstruktiv zu beraten und zu belehren.

Ob der Bereich der ausdrücklich gewollten künstlerischen Photographie jedoch als eigenes Genre der Kunst um 1900 zu betrachten war, stand noch offen. Zu einer Art vorläufigen oder experimentellen Beantwortung jener Frage hatten sich im Jahre 1893 in der Kunsthalle Hamburg drei Vertretergruppen, der Museumsvorstand, die Liebhaberphotographen und die Berufsphotographen im Rahmen der ersten Internationalen Ausstellung von Liebhaberphotographie zusammengefunden. Hierbei standen sich die beiden Photographenlager durchaus ablehnend gegenüber, sodass die Museumsleitung laborierte und als kritisches sowie schlichtendes Bindeglied zwischen den verschiedenen Ausstellern auftrat. Im internationalen Vergleich mit den phototechnisch wesentlich fortschrittlicheren Amerikanern, Engländern, Franzosen und Österreichern konnten die deutschen Vertreter der künstlerischen Photographie, welche immer noch und hauptsächlich das bereits rückständige Albuminverfahren nutzten, nicht wirklich mithalten, erklärte Alfred Lichtwark.[10]

Eine vermeintlich endgültige Antwort auf die Frage nach der Bedeutung der Photographie für die Kunst beziehungsweise für die Malerei des ausgehenden 19. Jahrhunderts konnte in Deutschland zu diesem Zeitpunkt gewiss noch nicht umfänglich abgegeben werden. Zu verstärkt auftretenden kunstphotographischen Strömungen wie der des Piktorialismus führten aber eben auch die in den folgenden Jahren zunehmenden Ausstellungsaktivitäten im öffentlichen und privaten Raum, das ausgesprochen ansteigende Interesse von Kunstverlagen an Photographie im Allgemeinen und Speziellen, die gegenseitige Schulung der Geschmacksbildung von Liebhaberphotographen und Berufsphotographen, die vielfältigen Photovereinsgründungen sowie der unaufhörliche Fortschritt in der Phototechnik.

Um 1905 sah Alfred Lichtwark die voranschreitende Etablierung der Berufsphotographie und der Liebhaberphotographie für längst noch nicht abgeschlossen an.[11] Er erhoffte sich außerdem die Wiedererstarkung der Bildnismalerei und wies mit einigem Aplomb auf die vielfältigen Chancen der sich fortwährend erneuernden Photographie für die Architektur und die Gartengestaltung hin.[12]


In der Zeit von 1893 bis 1913 eroberten sich die Liebhaberphotographie und die Berufsphotographie verschiedene Bereiche der Kunst und Dokumentation. Auf diese Entwicklungen soll jedoch an dieser Stelle nicht umfassender eingegangen werden. ©Nicky Heise, Berlin 2014.

Abb. 2 – Originalaufnahme von A. Schuler (18??–19??)/ Mit Genehmigung der Photographischen Gesellschafft, Berlin: Gemälde von Lawrence Alma-Tadema (1836–1912), Ein Bildhauermodell, 1879 auf der Münchner Jahresausstellung im Glaspalast.[13]

Anmerkungen und Verweise zu Teil 1:
[1]
Carl Heinrich Stratz: Die Schönheit des weiblichen Körpers, den Müttern, Ärzten und Künstlern gewidmet. Verlag Ferdinand Enke, Stuttgart 1908, 19. Auflage, Fig. 7 u. 9 S. 22–24.
[2]
Fritz Matthies-Masuren (1873–1938): Künstlerische Photographie. Entwicklung und Einfluss in Deutschland. Vorwort und Einleitung von Prof. Alfred Lichtwark, S. 1–18, Marquardt & Co., Berlin 1905. In: Die Kunst. Hrsg. von Richard Muther, 1907, S. 3.
[3]

Ebenda, S. 5.
[4]

Ebenda, S. 4–5. Anm.: Nach Lichtwark ersetzte die Bildnislithographie ab 1820 nach und nach ganze Bereiche des Bildnisstiches und der Bildnisradierung. Die Lithographie überdauerte die Miniaturmalerei bis in die 1880er Jahre hinein, nicht zuletzt weil sie billig arbeiten konnte. Bis die Bildnismalerei gänzlich von der Photographie verdrängt wurde, dauerte es nicht lang.
[5]

Fritz Matthies-Masuren (1873–1938): Künstlerische Photographie. Entwicklung und Einfluss in Deutschland. Vorwort und Einleitung von Prof. Alfred Lichtwark, S. 1–18, Marquardt & Co., Berlin 1905. In: Die Kunst. Hrsg. von Richard Muther, 1907, S. 5.
[6]

Ebenda, S. 6–7. Anm.: Lichtwark betonte ausdrücklich den Verfall der künstlerischen Photographie durch die Verwendung von Retusche.
[7]

Fritz Matthies-Masuren (1873–1938): Künstlerische Photographie. Entwicklung und Einfluss in Deutschland. Vorwort und Einleitung von Prof. Alfred Lichtwark, S. 1–18, Marquardt & Co., Berlin 1905. In: Die Kunst. Hrsg. von Richard Muther, 1907, S. 1.
[8]

Ebenda S. 9–10. Anm.: Die Berufsfotografen hatten um 1890 einen Einbruch im Geschäftsbereich der Kinderphotographie zu verzeichnen. Einen Grund hierfür sah Lichtwark darin, dass das Publikum die bereits üblichen Verschönerungen durch Retusche und so weiter nicht mehr allzu gern sehen mochte.
[9]

Fritz Matthies-Masuren (1873–1938): Künstlerische Photographie. Entwicklung und Einfluss in Deutschland. Vorwort und Einleitung von Prof. Alfred Lichtwark, S. 1–18, Marquardt & Co., Berlin 1905. In: Die Kunst. Hrsg. von Richard Muther, 1907, S. 9–12.
[10]

Ebenda, S. 10–11.
[11]

Ebenda, S. 12–18.
[12]

Ebenda, S. 17–18.
[13]

Carl Heinrich Stratz: Die Schönheit des weiblichen Körpers, den Müttern, Ärzten und Künstlern gewidmet. Verlag Ferdinand Enke, Stuttgart 1908, 19. Auflage, Fig. 7 u. 9 S. 22–24.

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