Dienstag, 20. Januar 2015

VON DER NATUR ZUR ABBILDUNG, VON DER ABBILDUNG ZUM BILDWERK UND VOM BILDWERK IN ABBILDUNG.

Ein Exkurs zur Photographie als eines der Arbeitswerkzeuge und Mittel der Dokumentation in der Bildhauerei um 1900.

Teil 2 von 3

Von der Abbildung zum Bildwerk 
Nun lässt sich die Frage nach der Nutzung und Bedeutung der Photographie für die Bildhauerei um 1900 stellen.

„Die künstlerischen Techniken, erst des Platin-, dann des Bromsilber-, Kohle- und Gummidrucks, die vor 1893 in Deutschland wesentlich nur als technisches Experiment angewandt wurden, verlangten eine weit intensivere Beobachtung der Natur, und das führte zahllose, die sonst unentschlossenen Herzens durch die Welt gegangen waren, zur Kunst.“[1] Alfred Lichtwarks auf die Entwicklungen in der photographischen Bildherstellung bezugnehmende Äußerung, als Museumsdirektor und Förderer der Photokunst, konnte diesbezüglich wohl kaum allgemeiner, wohlwollender oder gar kunsterzieherischer ausfallen. Kehrt man seine durchaus berechtigte Aussage darüber, dass die Unentschlossenen oft zur Photographie oder zu anderen künstlerischen Ausdruckstechniken fanden, in ihr Gegenteil um, lassen sich durchaus Hinweise dafür finden, dass gerade die Künstler die von der akademischen Kunst herkamen und hier eben im Besonderen die Berufsbildhauer der 1890er Jahre, die Photographie für ihre Arbeit zunehmend entdeckten, ausloteten und anzuwenden wussten.

Nahezu alle Bildhauer der Zeit schulten sich allerspätestens während ihrer akademischen Ausbildung in der intensiven Beobachtung der Natur und in deren Umsetzung im Bildwerk. Ganz sicherlich mischten sich die Beobachtungen des in der Natur Vorgefundenen mit zeittypischem Stilwollen, wie zum Beispiel mit dem Neuklassizismus oder dem Jugendstil. Überhaupt betrachtet waren ja fast alle Bildhauer von der natürlichen Gestalt ihrer eigens ausgesuchten Modelle her inspiriert und aufgefordert.

In der Publikation „Die Schönheit des weiblichen Körpers, den Müttern, Ärzten und Künstlern gewidmet.“ (19. Auflage von 1908) beschrieb der Arzt und Autor Carl Heinrich Stratz (1858–1924) die Arbeitsweise der Bildhauer Gustav Eberlein (1847–1927) und Max Klinger (1857–1920) zur Mitte der 1890er Jahre in Text und photographischen Abbildungen.[2]

Abb. 3 – Photograph nicht bekannt: Max Klingers Modell.[3]
Abb. 4 – Photograph nicht bekannt: Max Klingers Badende.
Abb. 5 – Photograph nicht bekannt: Max Klingers Modell.
Abb. 6 – Photograph nicht bekannt: Max Klingers Badende.

Zur Bildung der Marmorfigur „Badende, die sich im Wasser spiegelt“ (1896–1897, 152 cm, Leipzig, Museum der bildenden Künste) benutzte Max Klinger augenscheinlich Photographien eines Modells aus mindestens zwei Perspektiven (Abb. 3 u. 5). Grundsätzlich arbeitete Max Klinger so genau wie möglich nach der natürlichen Gestalt seines jeweiligen Modells, doch hatte er, wie viele seiner Berufskollegen auch, häufig Schwierigkeiten ein geeignetes Modell für seine Arbeit zu finden. Hier konnte mit der Photographie als Arbeitsmittel der Dokumentation von Körperlichkeit Abhilfe geleistet werden. „Der leitende Grundgedanke war für Klinger aber weder die genaue Wiedergabe des Modells noch der bildlich festgehaltene Eindruck einer Badenden, sondern die Darstellung eines gut gebauten weiblichen Körpers in einer sogenannten gewagten Stellung. […] Es handelt sich somit um ein Problem, das einerseits ein sehr gutes Modell, andererseits ein großes künstlerisches Können erheischt.[4] […] In dieser Statue ist ein bewußtes, sachverständiges Verbessern kleinerer Fehler mit gewissenhafter Naturtreue zu einer harmonischen Gesamtwirkung vereinigt.“[5]

Auch wenn Carl Heinrich Stratz betonte, dass das Modell ganz gewiss die nötigen körperlichen Voraussetzungen für eine bildhauerische Darstellung mitbringen musste und Max Klinger durch die Beigabe einer künstlerischen Idealisierung der Natur nach dem Habitus der griechischen Antike arbeitete,[6] kann gerade vor dem Hintergrund dessen, dass die Pose des Modells erhöhte Anforderungen an die Leistungsfähigkeit der Muskulatur des Körpers stellte, darauf hingewiesen werden, wie sehr das Erstellen einer geeigneten Photographie diese Umstände erleichtern konnte. „Es ist ohne weiteres einleuchtend, daß nur ein sehr muskelkräftiger Körper so lange in dieser Stellung aushalten kann, wie zur Nachbildung erforderlich ist.“[7] Nicht nur das Durchhalten, sondern auch die zeitversetzte und genaue Wiederholung einer Pose dürfte selbst für sogenannte Berufsmodelle eine gewisse Schwierigkeit dargestellt haben. Hinzu kamen die oftmals dürftig beheizten Bildhauerateliers: Muskelkrämpfe, angestrengte Gesichtszüge und Hautreaktionen – insgesamt eine unnatürlich-angespannt wirkende Ausstrahlung des Modells, dürfte die Folge dieser Bedingungen gewesen sein. Die in „Die Schönheit des weiblichen Körpers“ publizierten Photographien von Modell und Bildwerk verdeutlichen Max Klingers Arbeitsweise nach der Natur mit der künstlerischen Zutat der zurückhaltenden Idealisierung und beweisen darüber hinaus die Verwendung von Photographien zur Herstellung von Bildwerken. Die dem Anschein nach letztlich dem Vergleich dienlichen Photographien tragen in diesem Zusammenhang weder eindeutig den Charakter der oben angesprochenen Liebhaberphotographie noch der reinen Berufsphotographie, sie waren dem Bildhauer vielmehr als Modellphotographie oder Orientierung an der Natur und damit als Mittel der Dokumentation hin zum kunstvollen Bildwerk von Nutzen.

Gustav Eberlein verwertete für seine 1894–1900 geschaffene Marmorfigurengruppe „Nymphen mit dem Silen“ ebenfalls photographische Aufnahmen eines Modells (Abb. 7 u. 8). Dies wird besonders daran kenntlich, dass Gustav Eberlein von Carl Heinrich Stratz später auf den Photographien beobachtete, körperliche Makel des Modells durch eine ausgewählte Pose überspielte (Abb. 7, 8 u. 9–11).[8]

Abb. 7 – Originalaufnahme von A. Schuler: Zwanzigjähriges Berliner Modell von Gustav Eberlein.
Abb. 8 – Originalaufnahme von A. Schuler: Zwanzigjähriges Berliner Modell in Rückansicht.
Abb. 9 – Originalaufnahme von A. Schuler: Eberlein-Modell in Pose.
Abb. 10 – Originalaufnahme von A. Schuler: Eberlein-Modell in Rückansicht.
Abb. 11 – Originalaufnahme von A. Schuler: Gustav Eberleins Figurengruppe: Nymphen und Silen.

„Im Gegensatz zu Klinger, dessen Badende, Dank sei ihrem guten Körperbau, trotz der starken Beugung, schön bleibt, hat hier Eberlein durch richtige Verbindung von Beugung und Streckung den fehlerhaften Körperbau verdeckt und ihm den Schein der Schönheit verliehen.“[9] Die Photographien haben bei Gustav Eberlein einerseits dokumentarischen (Abb. 7 u. 8) und andererseits in planerischer Voraussicht zum Bildwerk hin inszenierten Bildcharakter (Abb. 9 u. 10).[10] „Eine mächtige Förderung hat die richtige Beobachtung der Natur in letzter Zeit durch die Ausbildung der photographischen Technik erfahren. Abgesehen von der Vervollkommnung in der Technik läßt sich der Tätigkeit der Photographen auch eine künstlerische Seite abgewinnen, welche auf der ästhetischen Anpassung des Objekts an die Grenzen der mechanischen Wiedergabe beruht.“[11] Einzelne Bildhauer der Zeit um 1900 nutzten das Mittel der Photographie für ihr von der Schönheit der Natur inspiriertes bildnerisches Schaffen (Abb. 3, 5 u. 7–10). ©Nicky Heise, Berlin 2014.


Anmerkungen und Verweise zu Teil 2:
[1]
Fritz Matthies-Masuren (1873–1938): Künstlerische Photographie. Entwicklung und Einfluss in Deutschland. Vorwort und Einleitung von Prof. Alfred Lichtwark, S. 1–18, Marquardt & Co., Berlin 1905. In: Die Kunst. Hrsg. von Richard Muther, 1907, S. 12.
[2]
Carl Heinrich Stratz: Die Schönheit des weiblichen Körpers, den Müttern, Ärzten und Künstlern gewidmet. Verlag Ferdinand Enke, Stuttgart 1908, 19. Auflage, S. 398–411.
[3]
Ebenda, Fig. 252–255 S. 398–402.
[4]
Ebenda, S. 398–399.
[5]
Ebenda, S. 401.
[6]
Anm.: Das heißt, dass Max Klinger im Sinne eines zurückhaltenden Idealismus anatomische Einzelheiten wie zum Beispiel die Form der Brüste oder die Deformation der Füße abänderte und eine Reduktion in der Darstellung der Haarfrisur vornahm. Carl Heinrich Stratz billigte Max Klinger aus anatomischer Sicht zu, alle Vorzüge der natürlichen Gestalt des Modells wie ihre gut geformten Beine übernommen und nur wenige Details der Körperlichkeit des Modells bei der Verwertung zur „Badenden“ verbessert zu haben.
[7]
Carl Heinrich Stratz: Die Schönheit des weiblichen Körpers, den Müttern, Ärzten und Künstlern gewidmet. Verlag Ferdinand Enke, Stuttgart 1908, 19. Auflage, S. 399–400.
[8]
Ebenda, Fig. 258–262 S. 404–411.
[9]
Ebenda, S. 411.
[10]
Ebenda, Fig. 258–262 S. 404–411.
[11]
Ebenda, S. 421.

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