Donnerstag, 15. Juli 2010

Amor und Psyche – eine Kopie nach Antonio Canova, aus dem Besitz derer von Veltheim (?) im Städtischen Museum zu Halberstadt.

(siehe unten: Anmerkungen vom 28. Januar 2013 und vom 19. Oktober 2016)

Seit nunmehr ca. 50 Jahren befindet sich im Städtischen Museum von Halberstadt eine Skulptur von „Amor und Psyche“ in Marmor. Diese Figurengruppe wurde von einem dem Museum derzeit noch unbekannten Bildhauer in Kopie nach dem berühmten Vorbild des klassizistischen Bildhauers Antonio Canova (1757-1822) gefertigt. Canovas Bildhauerarbeit wurde 1793 vollendet, ist im Pariser Louvre zu betrachten und gilt bis heute als ein Markstein der europäischen Kunstgeschichte.
Abb. I.: Prof. Dr. S. Einholz, März 2010: Antonio Canova „Amor und Psyche“ von 1793, Marmor, Höhe 155 cm, im Louvre in Paris. Canovas „Psyche“ ist liegend dargestellt. Von einem schmalen Tuch über ihren linken Oberschenkel geschlagen ist die Scham bedeckt. Amor nähert sich ihr in Umarmung von hinten, während ihres Erwachens aus todesähnlichem Schlaf. Er ist hier, im Unterschied zu vorangegangenen Arbeiten anderer Bildhauer, geflügelt dargestellt. Die glatte Oberfläche der Figurengruppe verweist auf die klassizistische Kunsttheorie von Johann Joachim Winckelmann (1717-1768).

Das kleinere Bildwerk in Halberstadt muss daher, wiewohl seine genaue Entstehungszeit noch ungewiss ist, im Nachgang als Kopie entstanden sein. Bisher konnte auch die Herkunft der wieder entdeckten und wenig beachteten Marmorskulptur nicht eindeutig geklärt werden. Ein Indiz führt jedoch, den persönlichen Erinnerungen des Museumsdirektors A.D. Dr. Adolf Siebrecht zufolge, nach Harbke. Armin Schulze, derzeitiger Museumsdirektor des Städtischen Museums Halberstadt, erfuhr über Herrn Siebrecht, dass das Bildwerk etwa Anfang der 60er Jahre im Museum Halberstadt mit dem Hinweis „es käme aus Schloss Harbke“ abgegeben wurde. Zu dieser Zeit verfiel das Schloss Harbke bereits zusehends zur Ruine. Von 1303 bis 1945 war das Adelsgeschlecht der von Veltheims als Gutsherren auf Schloss Harbke legitimiert.


In Folge der Bodenreform und der damit einhergehenden Enteignung der von Veltheims im Oktober 1945 flüchtete Dr. phil. Hans-Hasso Martin Ludolf von Veltheim auf Ostrau, Groß-Weissand und Garendorf (1885-1956) am 1. November 1945 in den westlichen Teil Deutschlands. Hierbei musste er einen beträchtlichen Teil des Familienbesitzes, z.B. die Kunstsammlung und das Gutsarchiv Ostrau, in Ostrau zurücklassen. Daher ist nicht völlig auszuschließen, dass die Marmorskulptur „Amor und Psyche“ im Vorab von einem der diversen Güter nach Harbke verbracht worden sein könnte.


Andererseits kann die Skulptur auch ursprünglich als Auftragsarbeit für Schloss Harbke gedacht gewesen sein, da sie sich thematisch nachträglich bestens in die Umgestaltung des Schlossparks durch Rüttger von Veltheim (1781-1848) im Jahre 1803 und in die Errichtung der neogotischen Orangerie 1830/31 einfügt. Ob die offenbar unsignierte Skulptur dieser Zeit zuzuordnen ist, bleibt noch unklar; sie kann ebenso gut zu einem späteren Zeitpunkt hergestellt worden sein, was sehr wahrscheinlich ist.
Abb. II.: Axel Elstermann, Juni 2010: „Amor und Psyche“ von (?), Marmor, Fragmenthöhe 54 cm, Breite 88 cm, Tiefe 45 cm, Städtisches Museum Halberstadt. Dass es sich bei dieser Marmorfigurengruppe um eine direkte Kopie nach Canova handelt, ist augenscheinlich eindeutig. Geringe, wiewohl feine Unterschiede drängen sich dem Betrachter im Vergleich zu Canovas Arbeit auf den ersten Blick auf: Der bisher unbekannte Bildhauer versuchte der vorliegenden Arbeit selbstbewusst seinen eigenen Schliff zu verleihen, um sich so von einer einfachen „imitatio“ abzuheben. Die gesamte Komposition wirkt letztlich nicht ganz so leicht und feingliedrig wie von Canova. Das Psyche bedeckende Tuch verläuft über ihr linkes Knie hinaus bis zum Knöchel hinab (siehe Abb. III.) und umhüllt beide Beine. Diese Ausführung entspricht der lithografischen Darstellung des Werkes von Canova (siehe Abb. IV).

Abb. III.: Axel Elstermann, Juni 2010: „Amor und Psyche“ von (?), Marmor, Fragmenthöhe 54 cm, Breite 88 cm, Tiefe 45 cm, Städtisches Museum Halberstadt. Der vorliegenden Skulptur in ihrer Darstellung sind außerdem bestimmte Attribute und Details im Gegensatz zu Canovas Komposition abhanden. So fehlt rückseitig betrachtet dem Amor der Köcher mit Pfeilen und der Psyche das amphorenartige Standgefäß. Charakteristisch für beide Arbeiten ist jedoch die zarte Zueinanderneigung der beiden Liebenden.

Abb. IV. aus: Die Werke Canova's. Sammlung von lithographirten Umrissen nach seinen Statuen und Bas-reliefs. Begleitet von einem erlaeuternden Text über jedes einzelne Werk nach den Urtheilen der Graefin Albrizzi und den besten Critikern, nebst dem Leben Canovas von H(enri) de Latouche (1785-1851). Herausgegeben von Fried. G. Schulz in Stuttgart. Stuttgart: Schulz (1825 oder 1826). – 2. wohlfeile Aufl. 1835. (www.goethezeitportal.de/index.php?id=3450)

Deutsche Bildhauer jedweden Stils beschäftigten sich mit der Darstellung des antiken Märchens von Amor und Psyche[1] in verschiedensten Auslegungen[2] und fanden zu ihrer Zeit in Deutschland hohen Anklang[3]:


1787 schuf Johann Heinrich von Dannecker eine Version von „Amor und Psyche“ ausgeführt in gebranntem Ton (35,7 x 18,2 x 8,4 cm), Staatsgalerie Stuttgart.
 
1848 präsentierte Heinrich Berges (1805 - 1852) seine Marmorgruppe Amor und Psyche auf der Akademieausstellung in Berlin.

Nach 1856 fertigte Karl Hassenpflug (1824 - 1890) „Amor und Psyche“ für König Friedrich Wilhelm IV. an. Friedrich Wilhelm IV. erwarb die Arbeit 1858 auf der Akademieausstellung in Berlin.

1850 bis 1894 verweilte Karl Voss in Rom, hier schuf er unter anderem eine Skulptur von „Amor und Psyche“.

Bei der in Halberstadt verorteten Version von „Amor und Psyche“ der von Veltheims (?) handelt es sich denkbarer Weise um das Werkstück eines Bildhauers, der mit seiner Arbeit beweisen wollte, dass er den filigranen Stil eines Canovas ebenfalls beherrscht. Das mittlerweile von Kernauflösung betroffene Marmorbildwerk bedarf dringend einer fachgerechten Konservierung. Die Skulptur weist schwere Beschädigungen auf, so fehlen die Arme der Psyche, Teile beider Gesichter sind verwittert, und vermutlich die Flügel des Amors verlustig.

An dieser Stelle bittet der Autor um Hinweise zur möglichen Herkunft des Stückes und um eventuell vorhandene Archivalien in Privatbesitz wie Kupferstiche, Inventarlisten und ähnliches. Zur weiteren Einschätzung und Forschung werden dringend Bildbeweise für die Aufstellung der Skulptur im Schlosskontext benötigt. © NH   
(Überarbeitete Version vom 19.07.2010)



Anmerkung vom 28. Januar 2013.

Mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit dürfte das besprochene Kunstwerk in der Berliner Bildhauerwerkstatt der Gebrüder Micheli hergestellt worden sein. In einem detaillierten Preisverzeichnis von 1918 sind Reproduktionen des populären Motivs in fünf verschiedenen Größen aus Carrarit, Elfenbeinmasse und Gips sowie aus Castellina-Marmor im Angebot der Gebrüder Micheli zu finden. Geneigte Kunstinteressenten konnten demnach die sogenannte „Erste Größe“ mit einer angegeben Höhe von 70 cm und einer Breite von 87 cm in Carrarit, Elfenbeinmasse oder Gips bestellen. In Castellina-Marmor waren zu dieser Zeit nur die vier kleineren Fassungen erhältlich. (Preis-Verzeichnis der Bildhauer-Werke von Gebrüder Micheli 1918, Preußische Staatsbibliothek Berlin, S. 26, Abb. ebd.)

Die im Städtischen Museum von Halberstadt als Torso erhaltene Reproduktion verfügt über eine gemessene Breite von ca. 88 cm. Dieses Breitenmaß käme der „Ersten Größe“ im Preisverzeichnis der Gebrüder Micheli ausgesprochen nahe. Eine genaue Materialprüfung im Museum verglichen mit weiteren Katalogen der Michelis könnte neue Erkenntnisse zur Zeit der Entstehung der ruinös erhaltenen Reproduktion hervorbringen. Nach einer ersten Einschätzung durch einen Steinbildhauer im Jahr 2010 liegt die Vermutung nahe, dass es sich bei dem Stück wohl um einen Marmor handelt. Eventuell umfasste das Repertoire der Bildhauerwerkstatt der Gebrüder Micheli bereits vor 1918 eine marmorne Fassung in dieser Größe.

Zur Steigerung der Bekanntheit ihrer Reproduktionen ließen die Michelis um 1906 Postkarten vertreiben, darunter auch Canovas „Amor und Psyche“ in stehender Ausführung, auf deren Vorderseite die Herkunft der Skulpturen aus ihrem Atelier gekennzeichnet war.

Angenommen, der Torso in Halberstadt stammt aus der Werkstatt der Gebrüder Micheli, so orientierten sich die Brüder in der Ausführung ihrer Reproduktion augenscheinlich an Canovas späterer Fassung (heute in der Eremitage, Sankt Petersburg) und/oder an der Replik in der Villa Carlotta in Italien.

Canovas Arbeiten fanden im aufstrebenden Bürgertum des 19. Jahrhunderts hohe Beachtung, Reaktionen von stillem Genuss bis zu glühender Verehrung waren die Folge: „[…] Ich habe nichts anderes in der Galerie gesehen. […] Ich küsste die Schönheit selbst. Dem Genius galt meine glühende Begeisterung.[…]“ notierte der Schriftsteller Gustave Flaubert (1821–1880) in seinem Tagebuch, nachdem er die Replik in der Villa Carlotta am Comer See ausgiebig betrachtet und letztlich sogar die steinerne Achsel der Psyche mit einem Kuss bedacht hatte.

Es werden weiterhin Fotografien einer möglichen Innen- oder Außenaufstellung im Schloss Harbke benötigt. Wer Hinweise zu derartigen Abbildungen geben kann, melde sich bitte unter der angegebenen E-Mail-Anschrift. © NH


Anmerkung vom 19. Oktober 2016.

Canovas „Amor und Psyche“ wurde von einigen Bildhauern nachempfunden. So schuf zum Beispiel Pietro Lazzarini (1842 Carrara bis 1918 ebenda) eine Marmorfassung mit dem anzunehmenden Titel „Eros und Psyche“. Auffällig erscheint bei dieser Fassung, dass der die Natur nachbildende Grund der Basis der Figurengruppe eckigere und scharfkantigere Felsenelemente aufweist, als sie bei Canova oder der hier besprochenen Gruppe vorkommen. Lazzarini entstammt einer Bildhauerfamilie aus Carrara und studierte in Florenz. 1869 ging er nach Berlin und machte sich als Portraitbildhauer für den Berliner Hofkreis einen Namen. Um 1875 machte sich Lazzarini in Paris sesshaft. (Vgl. auch: Ethos und Pathos, Beiträge, Kap. V, Brigitte Hüfler: Kurzbiografien Berliner Bildhauer, S. 507–508, Abb. S. 507)

Kontakt:
Nicky Heise, Dipl.-Museologe
oder:
Städtisches Museum Halberstadt
Domplatz 36
38820 Halberstadt
Tel.: 03941 55-1474‎





[1] Siehe: Norden, Eduard: Amor und Psyche. Märchen von Apulejus. Übertragen von Eduard Norden, mit Buchschmuck von Walter Tiemann, verlegt bei Hermann Seemann Nachfolger, Leipzig 1902.

[2] Siehe: Tegethoff, Ernst: Studien zum Märchentypus von Amor und Psyche. Rheinische Beträge und Hülfsbücher zur Germanischen Philologie und Volkskunde. Herausgegeben von Theodor Frings, Rudolf Meissner und Josef Müller, Bd. 4, Kurt Schroeder, Bonn und Leipzig 1922.

[3] Siehe: Reitzenstein, Richard: Das Märchen von Amor und Psyche bei Apuleius. Antrittsrede an der Universität Freiburg, gehalten am 22. Juni 1911. Verlag B.G. Teubner, Berlin - Leipzig 1912.