Dienstag, 21. Dezember 2010

Ausstellungserinnerung: OXYDATION - Rost - Bilder - Folien - Drucke - von Ingrid Sperrle im Kunsthof Halberstadt

Noch bis zum 14.01.2011 wird in der Galerie im Kunsthof zu Halberstadt eine Auswahl der Werke von Ingrid Sperrle präsentiert (Einschränkung: urlaubsbedingte Schließung vom 23.12.2010 - 03.01.2011). Hierzu berichtete die Künstlerin während der Vernissage am 12.11.2010 in einem ausführlichen Vortrag geprägt von Frage und Antwort über den künstlerischen Entstehungsprozess ihrer Arbeiten. Ihre Werke, allesamt ohne Titel gehalten, können der Konkreten Kunst zugeordnet und unter dem Gesamtbegriff Oxydation zusammengefasst werden. Sie bieten dem Betrachter nicht nur die Möglichkeit zum ästhetischen Genuss, sondern auch zur tieferen Auseinandersetzung mit dem Thema von Entstehung, Blüte und Verfall aller unorganischen und organischen Materie im Hinblick auf das Leben des Einzelnen.

Das farbgebende und gestalterische Mittel zur Erschaffung von kunstvollen Abbildern ist bei Frau Sperrle Eisenoxid, der allgemein hin als Abfallprodukt bezeichnete Rost. Profaner Rost als ästhetisches Mittel der Gestaltung von Kunstwerken? Nein, Rost stellt bei Frau Sperrle nicht nur ein Mittel zum künstlerischen Ausdruckszweck dar. Vielmehr wirft die Künstlerin mit der Verwendung dieser Materie eine weiter greifende Lebensfrage auf, im Speziellen die nach dem Tod. Grundlegende Fragen nach der Schönheit und Bedeutung aller einzelnen Phasen der Existenz kann sich der Betrachter mit Hilfe der Ausstellung in Ruhe selbst stellen und für sich beantworten. Im Fokus der hiesigen Betrachtung soll jedoch das weitläufig unbequeme Thema über den Wert und Unwert des vermeintlichen Todes für das Leben an sich liegen.

Der Begriff Eisen, im Mittelhochdeutschen „isen“ und im Keltischen „isara“, bedeutet „kräftig“. Im Gotischen, „eisarn“ und „aiz“, wird es gleichbedeutend mit dem Lateinischen „aes“ als Erz benannt. Eisen bildet in unserer Atmosphäre jedoch Rost, zur Vereinfachung der chemischen Oxydationsvorgänge: Eisen + Wasser + Sauerstoff wird zu Eisenhydroxid (+ Energie). Dabei vergrößert sich das Volumen und Wärme wird frei. Eisen ist zudem als Spurenelement in Pflanzen, Tieren und Menschen vorhanden. Das vorläufige Endprodukt Rost wird weithin unterschätzt, denn Eisen gefördert aus der Erde wird bald zu Roststaub und damit wieder Bestandteil der Erde.

Jeden Einzelnen holt Mutter Erde in ihren Schoß zurück. Der Philosoph A. Schopenhauer (1788-1860) beleuchtete in seinem Werk: „Die Welt als Wille und Vorstellung“ (2. Band), in Kapitel 41, „Ueber den Tod und sein Verhältniss zur Unzerstörbarkeit unsers Wesens an sich“, S. 536-591, das Thema von Entstehung und Verfall brillant und nicht ganz ohne Humor.

„[…] Wenn was uns den Tod so schrecklich erscheinen läßt der Gedanke des NICHTSEYNS wäre; so müßten wir mit gleichem Schauder der Zeit gedenken, da wir noch nicht waren. Denn es ist unumstößlich gewiß, daß das Nichtseyn nach dem Tode nicht verschieden seyn kann von dem vor der Geburt, folglich auch nicht beklagenswerther. Eine ganze Unendlichkeit ist abgelaufen, als wir NOCH NICHT waren: aber das betrübt uns keineswegs. Hingegen, daß nach dem momentanen Intermezzo eines ephemeren Daseyns eine zweite Unendlichkeit folgen sollte, in der wir NICHT MEHR seyn werden, finden wir hart, ja unerträglich. Sollte nun dieser Durst nach Daseyn etwan dadurch entstanden seyn, daß wir es jetzt gekostet und so gar allerliebst gefunden hätten? […]“ (S. 540-541)

Sicherlich ist das „Kosten“ des vorübergehenden Lebens mitbestimmend für die Frage nach dem Tod und dem darauf Folgendem. Nach Schopenhauer besonders festzuhalten ist allerdings das immer wiederkehrende Dasein in immer wieder gleichen Formen:

„[…] >>Wie?<<>>das Beharren des bloßen Staubes, der rohen Materie, sollte als eine Fortdauer unsers Wesens angesehen werden?<< - Oho! kennt ihr denn diesen Staub? Wißt ihr, was er ist und was er vermag? Lernt ihn kennen, ehe ihr ihn verachtet. Diese Materie, die jetzt als Staub und Asche daliegt, wird bald, im Wasser aufgelöst, als Krystall anschießen, wird als Metall glänzen, wird dann elektrische Funken sprühen, wird mittelst ihrer galvanischen Spannung eine Kraft äußern, welche, die festesten Verbindungen zersetzend, Erden zu Metallen reducirt: ja, sie wird von selbst sich zu Pflanze und Thier gestalten und aus ihrem geheimnißvollen Schooß jenes Leben entwickeln, vor dessen Verlust ihr in eurer Beschränktheit so ängstlich besorgt seid. Ist nun, als eine solche Materie fortzudauern, so ganz und gar nichts? Ja, ich behaupte im Ernst, daß selbst diese Beharrlichkeit der Materie von der Unzerstörbarkeit unsers wahren Wesens Zeugniß ablegt, wenn auch nur wie im Bilde und Gelichniß, oder vielmehr nur wie im Schattenriß. […].“ (S. 547-548)

Jene Unvergänglichkeit der Materie wird auch in der Kunst von Frau Sperrle aufgegriffen. Die Künstlerin druckt gewissermaßen das „Verfallsprodukt“ von Eisen auf einem Bildträger ihrer Wahl ab. Frau Sperrle macht mit Hilfe von Rost den Betrachter auf besondere Weise darauf aufmerksam, „[…] daß das lebende Wesen durch den Tod keine absolute Vernichtung erleidet, sondern in und mit dem Ganzen der Natur fortbesteht.“ (S. 549)

Die Kunst von Ingrid Sperrle bietet einen Versuch zur Hilfe zum Verständnis dafür, dass wenn die Menschen sterben müssen, sie in den Schoß der Erde zurückkehren, „wo sie geborgen sind, daher ihr Fall nur ein Scherz ist. […], denn wir selbst sind ja Natur. […].“ (S. 550)

Leben und Tod sind ständigem Wandel, aber auch Fortbestand unterworfen; dies könnte auch eine Überschrift zum Schaffen von Frau Sperrle sein.

„[…] Erwägen wir nun ferner, daß nicht nur, […], Leben und Tod von den geringfügigsten Zufällen abhängig sind, sondern daß das Daseyn der organischen Wesen überhaupt ein ephemeres ist, Thier und Pflanze heute entsteht und morgen vergeht, und Geburt und Tod in schnellem Wechsel folgen, während dem so sehr viel tiefer stehenden Unorganischen eine ungleich längere Dauer gesichert ist, eine unendlich lange aber nur der absolut formlosen Materie, welcher wir dieselbe sogar a priori zuerkennen; - da muß, denke ich, schon der bloß empirischen, aber objektiven und unbefangenen Auffassung einer solchen Ordnung der Dinge von selbst der Gedanke folgen, daß dieselbe nur ein oberflächliches Phänomen sei, daß ein solches beständiges Entstehen und Vergehen keineswegs an die Wurzel der Dinge greifen, sondern nur ein relatives, ja nur scheinbares seyn könne, von welchem das eigentliche, sich ja ohnehin überall unserm Blick entziehende und durchweg geheimnißvolle, innere Wesen jedes Dinges nicht mitgetroffen werde, vielmehr dabei ungestört fortbestehe;[…].“ (S. 550)

Eines der ausgestellten Werke in der Galerie bildet einen Kreis ab, und zu diesem Symbol schrieb Schopenhauer weiter:

„[…] Durchgängig und überall ist das ächte Symbol der Natur der Kreis, weil er das Schema der Wiederkehr ist: diese ist in der That die allgemeinste Form in der Natur, welche sie in Allem durchführt, vom Laufe der Gestirne an, bis zum Tod und der Entstehung organischer Wesen, und wodurch allein in dem rastlosen Strom der Zeit und ihres Inhalts doch ein bestehendes Daseyn, d.i. eine Natur möglich wird.[…]“ (S. 553)

Kunst als Mittel der Beobachtung und Darstellung von Leben und Tod kann uns allen mannigfaltige Freuden bereiten. Deshalb nehmen Sie sich bitte empfohlener Maßen gerade jetzt zum Ausgang des alten und Beginn des neuen Jahres ein paar Minuten Ihrer Zeit für die Werkschau und schenken Sie sich diese selbst. ©NH

Keine Kommentare: