Seit nunmehr ca. 50 Jahren befindet sich im Städtischen Museum von Halberstadt eine Skulptur von „Amor und Psyche“ in Marmor. Diese Figurengruppe wurde von einem dem Museum derzeit noch unbekannten Bildhauer in Kopie nach dem berühmten Vorbild des klassizistischen Bildhauers Antonio Canova (1757-1822) gefertigt. Canovas Bildhauerarbeit wurde 1793 vollendet, ist im Pariser Louvre zu betrachten und gilt bis heute als ein Markstein der europäischen Kunstgeschichte.
Abb. I.: Prof. Dr. S. Einholz, März 2010: Antonio Canova „Amor und Psyche“ von 1793, Marmor, Höhe 155 cm, im Louvre in Paris. Canovas „Psyche“ ist liegend dargestellt. Von einem schmalen Tuch über ihren linken Oberschenkel geschlagen ist die Scham bedeckt. Amor nähert sich ihr in Umarmung von hinten, während ihres Erwachens aus todesähnlichem Schlaf. Er ist hier, im Unterschied zu vorangegangenen Arbeiten anderer Bildhauer, geflügelt dargestellt. Die glatte Oberfläche der Figurengruppe verweist auf die klassizistische Kunsttheorie von Johann Joachim Winckelmann (1717-1768).
Abb. II.: Axel Elstermann, Juni 2010: „Amor und Psyche“ von (?), Marmor, Fragmenthöhe 54 cm, Breite 88 cm, Tiefe 45 cm, Städtisches Museum Halberstadt. Dass es sich bei dieser Marmorfigurengruppe um eine direkte Kopie nach Canova handelt, ist augenscheinlich eindeutig. Geringe, wiewohl feine Unterschiede drängen sich dem Betrachter im Vergleich zu Canovas Arbeit auf den ersten Blick auf: Der bisher unbekannte Bildhauer versuchte der vorliegenden Arbeit selbstbewusst seinen eigenen Schliff zu verleihen, um sich so von einer einfachen „imitatio“ abzuheben. Die gesamte Komposition wirkt letztlich nicht ganz so leicht und feingliedrig wie von Canova. Das Psyche bedeckende Tuch verläuft über ihr linkes Knie hinaus bis zum Knöchel hinab (siehe Abb. III.) und umhüllt beide Beine. Diese Ausführung entspricht der lithografischen Darstellung des Werkes von Canova (siehe Abb. IV).
Abb. III.: Axel Elstermann, Juni 2010: „Amor und Psyche“ von (?), Marmor, Fragmenthöhe 54 cm, Breite 88 cm, Tiefe 45 cm, Städtisches Museum Halberstadt. Der vorliegenden Skulptur in ihrer Darstellung sind außerdem bestimmte Attribute und Details im Gegensatz zu Canovas Komposition abhanden. So fehlt rückseitig betrachtet dem Amor der Köcher mit Pfeilen und der Psyche das amphorenartige Standgefäß. Charakteristisch für beide Arbeiten ist jedoch die zarte Zueinanderneigung der beiden Liebenden.
Abb. IV. aus: Die Werke Canova's. Sammlung von lithographirten Umrissen nach seinen Statuen und Bas-reliefs. Begleitet von einem erlaeuternden Text über jedes einzelne Werk nach den Urtheilen der Graefin Albrizzi und den besten Critikern, nebst dem Leben Canovas von H(enri) de Latouche (1785-1851). Herausgegeben von Fried. G. Schulz in Stuttgart. Stuttgart: Schulz (1825 oder 1826). – 2. wohlfeile Aufl. 1835. (www.goethezeitportal.de/index.php?id=3450)Bei der in Halberstadt verorteten Version von „Amor und Psyche“ der von Veltheims (?) handelt es sich denkbarer Weise um das Werkstück eines Bildhauers, der mit seiner Arbeit beweisen wollte, dass er den filigranen Stil eines Canovas ebenfalls beherrscht. Das mittlerweile von Kernauflösung betroffene Marmorbildwerk bedarf dringend einer fachgerechten Konservierung. Die Skulptur weist schwere Beschädigungen auf, so fehlen die Arme der Psyche, Teile beider Gesichter sind verwittert, und vermutlich die Flügel des Amors verlustig.
An dieser Stelle bittet der Autor um Hinweise zur möglichen Herkunft des Stückes und um eventuell vorhandene Archivalien in Privatbesitz wie Kupferstiche, Inventarlisten und ähnliches. Zur weiteren Einschätzung und Forschung werden dringend Bildbeweise für die Aufstellung der Skulptur im Schlosskontext benötigt. © NH
Anmerkung vom 28. Januar 2013.
Mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit dürfte das besprochene Kunstwerk in der Berliner Bildhauerwerkstatt der Gebrüder Micheli hergestellt worden sein. In einem detaillierten Preisverzeichnis von 1918 sind Reproduktionen des populären Motivs in fünf verschiedenen Größen aus Carrarit, Elfenbeinmasse und Gips sowie aus Castellina-Marmor im Angebot der Gebrüder Micheli zu finden. Geneigte Kunstinteressenten konnten demnach die sogenannte „Erste Größe“ mit einer angegeben Höhe von 70 cm und einer Breite von 87 cm in Carrarit, Elfenbeinmasse oder Gips bestellen. In Castellina-Marmor waren zu dieser Zeit nur die vier kleineren Fassungen erhältlich. (Preis-Verzeichnis der Bildhauer-Werke von Gebrüder Micheli 1918, Preußische Staatsbibliothek Berlin, S. 26, Abb. ebd.)
Die im Städtischen Museum von Halberstadt als Torso erhaltene Reproduktion verfügt über eine gemessene Breite von ca. 88 cm. Dieses Breitenmaß käme der „Ersten Größe“ im Preisverzeichnis der Gebrüder Micheli ausgesprochen nahe. Eine genaue Materialprüfung im Museum verglichen mit weiteren Katalogen der Michelis könnte neue Erkenntnisse zur Zeit der Entstehung der ruinös erhaltenen Reproduktion hervorbringen. Nach einer ersten Einschätzung durch einen Steinbildhauer im Jahr 2010 liegt die Vermutung nahe, dass es sich bei dem Stück wohl um einen Marmor handelt. Eventuell umfasste das Repertoire der Bildhauerwerkstatt der Gebrüder Micheli bereits vor 1918 eine marmorne Fassung in dieser Größe.
Zur Steigerung der Bekanntheit ihrer Reproduktionen ließen die Michelis um 1906 Postkarten vertreiben, darunter auch Canovas „Amor und Psyche“ in stehender Ausführung, auf deren Vorderseite die Herkunft der Skulpturen aus ihrem Atelier gekennzeichnet war.
Angenommen, der Torso in Halberstadt stammt aus der Werkstatt der Gebrüder Micheli, so orientierten sich die Brüder in der Ausführung ihrer Reproduktion augenscheinlich an Canovas späterer Fassung (heute in der Eremitage, Sankt Petersburg) und/oder an der Replik in der Villa Carlotta in Italien.
Canovas Arbeiten fanden im aufstrebenden Bürgertum des 19. Jahrhunderts hohe Beachtung, Reaktionen von stillem Genuss bis zu glühender Verehrung waren die Folge: „[…] Ich habe nichts anderes in der Galerie gesehen. […] Ich küsste die Schönheit selbst. Dem Genius galt meine glühende Begeisterung.[…]“ notierte der Schriftsteller Gustave Flaubert (1821–1880) in seinem Tagebuch, nachdem er die Replik in der Villa Carlotta am Comer See ausgiebig betrachtet und letztlich sogar die steinerne Achsel der Psyche mit einem Kuss bedacht hatte.
Es werden weiterhin Fotografien einer möglichen Innen- oder Außenaufstellung im Schloss Harbke benötigt. Wer Hinweise zu derartigen Abbildungen geben kann, melde sich bitte unter der angegebenen E-Mail-Anschrift. © NH
Anmerkung vom 19. Oktober 2016.
Canovas „Amor und Psyche“ wurde von einigen Bildhauern nachempfunden. So schuf zum Beispiel Pietro Lazzarini (1842 Carrara bis 1918 ebenda) eine Marmorfassung mit dem anzunehmenden Titel „Eros und Psyche“. Auffällig erscheint bei dieser Fassung, dass der die Natur nachbildende Grund der Basis der Figurengruppe eckigere und scharfkantigere Felsenelemente aufweist, als sie bei Canova oder der hier besprochenen Gruppe vorkommen. Lazzarini entstammt einer Bildhauerfamilie aus Carrara und studierte in Florenz. 1869 ging er nach Berlin und machte sich als Portraitbildhauer für den Berliner Hofkreis einen Namen. Um 1875 machte sich Lazzarini in Paris sesshaft. (Vgl. auch: Ethos und Pathos, Beiträge, Kap. V, Brigitte Hüfler: Kurzbiografien Berliner Bildhauer, S. 507–508, Abb. S. 507)
Kontakt:
Nicky Heise, Dipl.-Museologe
Domplatz 36
38820 Halberstadt
Tel.: 03941 55-1474
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen